Impuls zum 5. November 2023
Von Ferdinand Kerstiens (Marl), pax christi Münster
„Von unten“
Papst Franziskus hat zu Beginn der Weltsynode ein Apostolisches Schreiben „Laudate Deum“ veröffentlicht, in dem es um die Klima-Krise geht. Der Papst wirft den Eliten und Entscheidungsgremien in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik vor, die Krise nicht ernst zu nehmen und nicht die nötigen Entscheidungen zu treffen. Auch in der Kirche gebe es Leugner der Klima-Bedrohung und Nachholbedarf. Das gilt auch uns: Welche kircheneigenen Gebäude haben hier z.B. Solaranlagen? Welche ökologischen Auflagen werden bei der Verpachtung von Kirchengrundstücken gemacht? Der Papst will Druck machen im Blick auf die Klimakonferenz in Dubai. Da ist dem Papst sicher zuzustimmen.
Da aber die Machtinhaber, die Eliten und die bestehenden erstarrten Institutionen keine Einsicht und Kraft haben, weist der Papst auf Entwicklungen in der Gesellschaft hin, die Neues möglich machen. Es geht um die Globalisierung und den Druck „von unten“ (Anführungszeichen im Original!). Da heißt es:
„Es ist nicht angemessen, den Multilateralismus mit einer Weltautorität zu verwechseln, die in einer Person oder einer Elite mit übermäßiger Macht konzentriert ist. Nr.35
Es bleibt bedauerlich, dass man globale Krisen verstreichen lässt, wo sie doch die Chance bieten würden, heilsame Veränderungen herbeizuführen. Nr. 36
Mittelfristig begünstigt die Globalisierung einen spontanen kulturellen Austausch, ein größeres Wissen übereinander und Formen der Integration von Menschen, die zu einem Multilateralismus „von unten“ führen, der nicht einfach von Menschen beschlossen wurde. Die Forderungen, die überall auf der Welt von unten kommen, wo sich engagierte Personen aus den unterschiedlichsten Ländern gegenseitig helfen und begleiten, können letztlich Druck auf die Machtverhältnisse ausüben. Es ist zu hoffen, dass dies im Hinblick auf die Klimakrise geschieht. Nr. 38
Es ist letztendlich also eine größere „Demokratisierung“ der Weltebene erforderlich, damit die verschiedenen Situationen wahrgenommen und einbezogen werden können. So wird es nicht mehr hilfreich sein, Institutionen aufrecht zu erhalten, die die Macht der Stärksten wahren, ohne sich um das Recht aller zu kümmern. Nr. 43“
Als ich das las, habe ich in Gedanken an die Auseinandersetzungen um den deutschen „Synodalen Weg“ und die Weltsynode und ihre Zusammensetzung das Wort „Klimakrise“ (Nr. 38) durch „Kirchenkrise“ ersetzt. Plötzlich gingen mir viele Parallelen durch den Kopf: Der Papst entwickelt mit seinen Thesen eine neues Veränderungskonzept durch den Druck „von unten“. Er nimmt die Inkarnation wahr: Kirche ist (auch) eine gesellschaftliche Größe und unterliegt deren Veränderungsprozessen und Gefahren! Aber das ist wohl nur ein Wunschtraum. Das alles gilt nur für die weltliche Gesellschaft. In der Kirche gibt es die Konzentrierung der Macht in einer Person und seiner Elite. Der Papst handelt nicht unter Druck, wie er es selber im Blick auf die Situation von Kardinal Wölki gesagt hat. Deswegen passt auch das mit der „Demokratisierung“ von Entscheidungen für ihn nicht. Bei der Weltsynode dürfen Frauen mitentscheiden, allerdings „von oben“ sorgfältig ausgesuchte. Aber entschieden wird ja nur über Vorschläge an den Papst. Alle dürfen mitreden, aber nur er alleine entscheidet, er, der Papst alleine. Wie hieß es noch in dem Papstschreiben: „Es ist nicht angemessen, den Multilateralismus mit einer Weltautorität zu verwechseln, die in einer Person oder einer Elite mit übermäßiger Macht konzentriert ist…. So wird es nicht mehr hilfreich sein, Institutionen aufrecht zu erhalten, die die Macht der Stärksten wahren, ohne sich um das Recht aller zu kümmern.“
Vor diesem Hintergrund lese ich das heutige Evangelium:
„Darauf sprach Jesus zum Volk und zu seinen Jüngern und sagte: Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Darum tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach ihren Taten; denn sie reden nur, tun es aber nicht. Sie schnüren schwere und unerträgliche Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, selber aber wollen sie keinen Finger rühren, um die Lasten zu bewegen. Alles, was sie tun, tun sie, um von den Menschen gesehen zu werden: Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang, sie lieben den Ehrenplatz bei den Gastmählern und die Ehrensitze in den Synagogen und wenn man sie auf den Marktplätzen grüßt und die Leute sie Rabbi nennen. Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Schwestern und Brüder. Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel. Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer; Christus. Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ (Mt23,1-12)
Machtkämpfe um die ersten Plätze, Kämpfe darum, wer das letzte Wort hat, gab es unter den Pharisäern und Schriftgelehrten und in den ersten christlichen Gemeinden, sonst hätte Matthäus nicht so deutlich davor gewarnt. Wie ist das heute in der Gemeinde, in der Kirche, die sich auf diesen Jesus beruft? Ehrenplätze, Gebetsriemen in verschiedenen Farben, das letzte Wort als Bischof und Lehrer, gar als „Heiliger Vater“? Ich will nicht alles eins zu eins umlegen. Aber Anfragen an die zurzeit gültige, geschichtlich gewordene hierarchische Kirchenstruktur müssen sein, wenn wir das Evangelium ernst nehmen. Mir scheint, dass die von Papst Franziskus analysierte nötige Gesellschaftsstruktur „von unten“ auch für Schwestern und Brüder Jesu, für die Kirche, gilt und diesem Evangelium mehr entspricht als die gegenwärtige Kirchenstruktur mit ihrem dogmatisch festgeschnürten (Mt 23,4) Kirchenrecht mit der Bündelung aller Rechte in einer Person.
Doch diese Kritik und Selbstkritik ist nur die eine Seite des heutigen Evangeliums. Die andere ist die frohe Botschaft, die darin steckt: Ihr, die Glaubenden, seid ganz unmittelbar zum Vater. Er ist euch allen ganz nahe. Da steht keiner zwischen dem Vater und euch. Das ist ja die Mitte der Reich-Gottes-Predigt Jesu: das Reich Gottes ist ganz nahegekommen. Wir brauchen keine Priester, die zwischen uns und Gott vermitteln. Wir alle dürfen Gott „abba“ nennen, den vertrauten Vater ganz nahe bei uns.
Ihr seid untereinander Brüder und Schwestern. Das überwindet alle Grenzen, die nationalen und religiösen Grenzen, die gesellschaftlichen Schichtungen, alle Herrschaftsansprüche von Menschen über Menschen. Das ist die beglückende neue Erfahrung der jungen Gemeinde! Das Trennende zwischen Gott und den Menschen und das Trennende zwischen den Menschen untereinander sind weg! Ich denke, nach solcher Gemeinde- und Kirchenerfahrung sehnen sich heute viele! Wir dürfen sie leben und einander erleben lassen! Daran kann keiner uns hindern, höchstens wir selber.
Da gibt es keine Meister und Lehrer mehr, die uns in unserem Glaubensleben bevormunden und Angst machen. Jesus ist Lehrer und Meister für einen jeden, eine jede von uns. Es gibt nur noch den Dienst, der den Menschen zu leben hilft, der sie öffnet für die unmittelbare Nähe Gottes, des Vaters, für seinen Sohn, den Meister und Diener, den Bruder. Dienst kann nur von unten her geschehen, nicht von oben her, Dienst, der nicht erniedrigt, sondern erhöht, Dienst, wie Jesus ihn in seinen Begegnungen mit den Menschen gelebt und zeichenhaft in der Fußwaschung vollzogen hat. Auch Jesus will nicht „Herr“ seiner Kirche sein, sondern der letzte, der den anderen zum Leben dient.
Das ist Jesu Kirchenordnung, sein Kirchenrecht, nach dem sich alles „Kirchenrecht“ und alle Dogmatik, vor allem aber das Verhalten der Christinnen und Christen, auch der Kirchenleitung, auch der christlichen Kirchen untereinander auszurichten haben. Ich kann nur für mich sagen: in einer solchen Kirche zu leben und mitzuwirken, macht Freude. Ich sehe, wie sie sich vielfach von unten her entwickelt. Selbstkritik und Kritik der vorhandenen Kirchen sind Voraussetzung für solche neue Kirchenerfahrung im Sinne Jesu und im Sinne seines Evangelisten Matthäus. Eine solche Kirche hat Zukunft, gerade auch in einer Gesellschaft, wo die Menschen nur nach ihrem Gebrauchswert bewertet und behandelt werden, wo sich Menschen sehnen nach anderen Menschen, die ihnen zum Leben dienen. Dieser gegenseitige Dienst ist Zeichen der Freiheit, zu der uns Jesus befreit hat.
Ich freue mich, dass diese Kirchenordnung Jesu vielfach gelebt wird: in dem Dienst an Geflüchteten, an den Armgemachten, den Opfern der Wirtschaftsunordnung, den gesellschaftlich Ausgegrenzten, im Einsatz für Menschenwürde und Gerechtigkeit für alle Menschen, die von Gott, dem Vater im Himmel, geliebt sind, im gewaltfreien Einsatz für Frieden zwischen den verfeindeten Menschen, Gruppen, Religionen, Völkern, in gemeinsamen Gebeten und Gottesdiensten. In der Solidarität mit all diesen Menschen, ob sie sich katholisch nennen oder nicht, bin ich gerne Kirche im Sinne Jesu – trotz allem.
Gebet
Guter Gott, Vater und Mutter aller Menschen,
unsere Welt ist bestimmt von Krieg und Gewalt.
Oft wird dein Name missbraucht,
um Gewalt zu rechtfertigen, Menschen auszugrenzen
und Völker zu überfallen.
Wir danken dir für alle Menschen,
die sich für andere Menschen einsetzen,
für die Armgemachten und Verletzten zuerst,
für die Ohnmächtigen und Kranken,
für die Flüchtenden überall auf der Welt,
für Verständigung und grenzenlosen Frieden.
In Jesus, deinem Sohn, der uns seine Schwestern und Brüder genannt hat,
erkennen wir deine Menschenfreundlichkeit und Güte.
Befreie uns, befreie deine Kirche von aller Machthaberei.
Hilf, dass auch wir mit unserer kleinen Kraft
dem friedlichen Miteinander dienen
in Familie und Nachbarschaft, Gesellschaft und Wirtschaft,
im Denken und Handeln, im politischen Einsatz.
Dann wird etwas von deinem Reich erfahrbar,
von deinem Reich der Gerechtigkeit und des Friedens,
des Lebens in Fülle für alle Menschen.
Wir danken dir für Jesus,
der als unser Bruder bei dir
und hier in unsere Mitte lebt und wirkt.
Er ist für uns Zeichen der Hoffnung
für Zeit und Ewigkeit. Amen